Mittwoch, 14. Oktober 2015

Das "Scherben"fenster



Das "Scherben"fenster


Ein Glasmaler zeigte seiner kleinen Tochter seine Werkstatt. Sie hatte sehr große Fenster, und die Decke bestand aus lauter Glas, um möglichst viel Licht einzufangen. Auf einem großen Tisch lag ein ganzer Berg bunter Glasscherben - schief und krumm -, aus denen ein Kirchenfenster für einen Heiligen gefaßt werden sollte. Es war schwer; sich vorzustellen, daß sie ein großes Ganzes werden könnten.

"Du kannst mir helfen", meinte der Vater; "reich mir nur vorsichtig ein Glas nach dem anderen an." Dann setzte er die bunten Scheibchen auf einen mächtigen Karton, der die Umrisse einer Zeichnung erkennen ließ. Sie paßten haargenau ineinander. Aber alles war noch dunkel und trübe. Der Vater lächelte: "Der liebe Gott muß mir noch etwas helfen. Du wirst sehen!"

Viele Wochen später ging er mit seiner Tochter in die Seitenkapelle einer Kirche. Er lenkte ihren Blick auf ein Fenster, das die Sonne gerade in den roten, blauen, gelben Gläsern wunderbar ausleuchtete. Der Vater nickte: "Das Fenster, an dem du mitgeholfen hast."

Unten an dem Fensterbild, wo die Sonne nicht so stark hindurchscheinen konnte, war alles noch ziemlich dunkel. Aber je höher es ging, um so mehr begann es zu leuchten und zu strahlen. Bei einigen Gläsern mußte man fast die Hände vors Gesicht halten, um den Glanz der blendenden Sonne auszuhalten. Das Töchterchen staunte.

"Siehst du", begann der Vater wieder, "dieses Fenster haben wir gemeinsam geschaffen, weil du mir die Gläser angereicht hast. Ahnlich will Gott mit dir, mit mir und allen Menschen solch wunderbare Fenster malen." Verwundert und ungläubig blickte die kleine Tochter zu ihrem Vater auf. "Ich mache keinen Spaß!" fuhr er fort, "jeder Tag, den Gott uns gibt, ist so ein kleines, buntes Scheibchen. Wir geben ihm seine ganz besondere Farbe und schenken es am Abend Gott wieder zurück. Er setzt dann all die Gläser nach seinem Plan zusammen und macht nach und nach ein herrliches Fenster daraus. Dabei kommt es auch darauf an, daß wir das Licht der Sonne Gottes aufnehmen und es durchlassen. Dann fallen schöne Strahlen in die Welt hinein. So wie dieser Heilige, den das Fenster zeigt, nie mehr von den Menschen vergessen wurde, weil er die Welt leuchtender, ja strahlender gemacht hat." Und das Mädchen stand noch eine Weile still und nachdenklich da.

Verfasser unbekannt



Glasfenster Kinder Mai 2005



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